Glatteis


Es ist schon etwas her, wird mir aber unvergessen bleiben.. der Blitzeis-Sonntag in Hamburg.

In meiner Stadt sind Eis und Schnee eine Seltenheit. Wenn Hamburg aber mal verschneit ist, zieht es fast alle nach draußen, die Stadt in ihrem ungewohnten Kleid zu bewundern.

Und so hatten ein paar Freunde und ich uns für den Sonntag im Stadtpark verabredet. Seit Tagen war ein leichter aber unaufhörlicher Schneefall damit beschäftigt gewesen, dicke weiße Polster über die Dächer zu ziehen und aus ganz normalen Bäumen filigrane Kunstwerke zu machen.

So trafen wir uns, dick eingemummelt im Stadtpark-Cafe am großen Spielplatz. Wir befreiten uns von den beschneiten und nassen Mänteln und Jacken, die Schals und Mützen flogen nur so, es war warm im Cafe. Wir setzten uns und schnatterten, begeistert über die Pracht draußen. Jetzt erstmal Kaffee! Schön heiß und stark.

Aufgewärmt und zu allem möglichen Unsinn aufgelegt, gingen wir eine Stunde später raus. Natürlich war ne Schneeballschlacht angesagt. Wir benahmen uns wie die Kinder, tobten und lachten.. Nach einiger Zeit wurde es dunkel und wir trennten uns, um in unterschiedliche Richtungen nach Hause zu gehen. Inzwischen war der Schneefall in Schneeregen übergegangen. "Das gibt bestimmt Blitzeis!" meinte Karsten noch, wir anderen nickten sorgenvoll.

Über Hamburg bei "Schneemalheur" gibt es unzählige Witze. Hamburg ist nun mal kein Schneegebiet und dementsprechend bricht auch alles zusammen, wenn es doch mal soweit ist. Beliebter Spruch: "Was unterscheidet Hamburg von Timbuktu? Hamburg hat eine Schneefräse mehr!".

So stapfte ich, in Gedanken an den morgigen Arbeitstag versunken, durch den feuchten Schnee Richtung Bushaltestelle. Ich fröstelte. So langsam meldete sich meine Blase. Der Kaffee, immerhin drei Kännchen, drückte. Die Kälte machte es nicht besser. Zum hundertsten Mal fragte ich mich, warum ich nicht im Cafe nochmal auf der Toilette war, wie die anderen. Aber ich kannte die Antwort. Normalerweise kann ich sehr gut ein paar Stunden anhalten und ich geh nun mal ungern woanders aufs Klo. Und sooo nötig musste ich vorhin nicht. "Vorhin" war allerdings mittlerweile drei Stunden her...

Der Stadtpark in Hamburg ist riesig. Der Weg zur Bushaltestelle lang. Aber die Rettung nahte. Am Hauptweg Richtung Saarlandstraße gab es ein Toilettenhäuschen. Hoffnungsvoll beschleunigte ich meine Schritte. Minuten später stand ich fassungslos vor verschlossener Tür. "Öffnungszeiten 10 - 18 Uhr" stand dort. Es war 18.15 Uhr. Weltstadt Hamburg!

Da stand ich nun, in meinem langen schwarzen Mantel, mit Stiefeln und Schal und Mütze und kniff die Beine zusammen. Was tun? Zurück ins Cafe konnte ich nicht. Die schlossen auch um 18 Uhr. Im Park war der Teufel los. Sonntags ist halb Hamburg da und bei so einem Wetter erst recht. Jetzt waren ganze Heerscharen auf dem Heimweg. Mit leiser Verzweiflung sah ich mich um. Hinter dem Häuschen war ein Zaun, direkt dahinter eine Hauptstraße. Unmöglich, sich dort ungesehen hinzuhocken. Im Winter ist ja kein Laub an Bäumen und Sträuchern, man kann überall durchsehen.
Damit fiel auch die Option "hinter den Busch" flach.

Also zur Bushaltestelle. "Wird schon gutgehen" beruhigte ich mich. Gleichzeitig merkte ich, wie es bei jedem Schritt in meiner randvollen Blase schwappte. Ich ging wie auf Eiern.

Als die Bushaltestelle in Sichtweite kam, sank mir der Mut. Eine Riesenmenschentraube stand davor. Alle Sitzplätze, auf die ich so gehofft hatt, waren belegt. Im Sitzen kann ich besser anhalten, als im Stehen. Aber keine Chance. So stellte ich mich dazu und kreuzte unauffällig die Beine. Es kostete mich große Anstrengung, nicht rumzuzappeln. Ich musste inzwischen so dringend, dass ich mir am liebsten mit der Hand unter den Rock gefahren wäre.

Natürlich hatte der Bus Verspätung. Blitzeis. Ich hatte schon im Park bemerkt, wie glatt es war. Auf den Straßen schlichen die Fahrzeuge im Schritttempo. Ich biss mir auf die Unterlippe und begann, meine Schenkel rhythmisch zusammenzukneifen.

Endlich kam der Bus! Ich drängelte mich an protestierenden Fahrgästen vorbei hinein. Ich MUSSTE einfach einen Sitzplatz ergattern, sonst hätte ich mir in die Hose gepieschert.
Es gelang! Aufstöhnend setzte ich mich, schlug sofort die Beine übereinander und presste sie mit aller Kraft zusammen. Jetzt ging es wieder einigermaßen.

Normalerweise braucht der Bus für die acht Haltestellen zu mir nach Hause etwa 20 Minuten. Aber heute? Ausgeschlossen. Ich merkte schon nach wenigen Minuten, dass wir kaum vorwärts kamen. Panik stieg in mir hoch.

20 weitere Minuten anzuhalten hätte ich mir noch so gerade eben zugetraut. Aber es sah eher nach zwei Stunden aus. Das war auf keinen Fall mehr zu schaffen. Aber was tun? Hektisch überlegte ich. Während ich nachdachte, begann ich, zu wibbeln. Ich konnte nichts mehr dagegen machen.
Neben mir saß ein Mann knapp über dreißig, dessen Aufmerksamkeit ich langsam erregte.
Ich starrte krampfhaft aus dem Fenster und wurde knallrot im Gesicht. Ob er meine Not bemerkt hatte?
Ich konnte ja nicht mehr stillsitzen und das fiel natürlich auf.

Aus dieser Situation musste ich mich befreien. Ich beschloss, an der nächsten Haltestelle auszusteigen. Das war immer noch am Park und dann würde ich mich eben hinter einen Baum hocken. Mittlerweile war mir völlig Wurscht, ob das jemand sehen würde.
Die Haltestelle kam in Sicht und ich stand auf. Fast sofort musste ich mit der Hand zwischen meine Beine. Der Drang kam so plötzlich und so gewaltig, dass ich nicht mehr anders konnte. X-beinig stolperte ich zur Tür. Der Mann, der eben noch neben mir saß, stand ebenfalls auf. Oh nein! Das auch noch!

Die beiden Stufen runter stürzte ich mehr, als ich ging.
Direkt neben der Haltestelle stand ein Baum an der Straße. Ohne auch nur nachdenken zu können, raffte ich Mantel und Rock nach oben, ging gleichzeitig in die Hocke und strullte aufstöhnend in den Schnee. Scharf zischend bahnte sich der Strahl seinen Weg durch mein Höschen und traf aufspritzend den Boden. Ich pisste und pisste....
Der Bus fuhr nicht weiter. Die Insassen starrten fasziniert aus dem Fenster, um sich das Schaupiel nicht entgehen zu lassen.
Passanten blieben stehen und sahen mir zu. Ein älteres Ehepaar mit Dackel stand quasi direkt neben mir. Der Hund war äußerst interessiert... Mir war alles egal.
Die Erleichterung war so ungeheuer, dass ich mich stöhnen hörte: "..OOHH....Ohh...."
Noch ein Schwall.. noch einer... dann war es vorbei.

Als ich mich aufrichtete, stand vor mir der Mann aus dem Bus und sah mir direkt ins Gesicht.
Ich senkte den Blick zu dem großen dunklen dampfenden Fleck, der im Schnee entstanden war. "Darf ich dich nach Hause bringen?" fragte er.
Seine Stimme war tief, ruhig und ich bemerkte das unterdrückte Vibrieren in ihr. Ich nahm mich zusammen und sah ihn wieder an. Auf einmal fühlte ich mich so schutzlos den Blicken der Spaziergänger ausgeliefert, dass ich annahm. Er führte mich etwas abseits und wir gingen in Richtung meiner Wohnung. Der Weg war sehr lang, immerhin sieben Bushaltestellen mussten wir zu Fuß gehen. Taxen waren nicht zu kriegen bei dem Wetter.
Nach einer Weile begann er zu reden. Wie ich ausgesehen hätte, hockend am Boden, mit einem Gesichtsausdruck, als würde es mir gerade kommen. Wie sehr ihn das erregt hat. Dass er schon im Bus erregt war, als er bemerkte, wie nötig ich musste.
Ob ich das Ganze provoziert hätte. Ob ich so etwas öfter machen würde. Ob er mir nochmal dabei zusehen könnte.

Ich schwieg. Verwirrt und verstört blieb ich irgendwann stehen und bat ihn, mich allein zu lassen. Seine Bitten nach meiner Adresse oder Telefonnummer schlug ich ab. Er akzeptierte sehr widerstrebend und ging schließlich.

Ich habe ihn nie wiedergesehen.


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