Die Wasserhexe


Claudia liebte das Meer. Sie konnte stundenlang am Strand sitzen und auf das Wasser hinaus sehen. Wahrscheinlich hatte sie es auf den Chromosomen verankert bekommen - ihre Vorfahren stammten schließlich alle von den Küsten Norddeutschlands.

Claudias Großmutter war in der Nähe von Husum geboren. Eine kleine, rundliche Frau, die in einem Bauernhaus hinterm Deich wohnte.
Immer wenn Sturmflut angesagt war, zog sich Oma Ölzeug und Langschäfter an, schnappte sich Klappstuhl und Thermoskanne und ging mit den anderen alten Frauen des Ortes auf den Deich "Die Flut weggucken". Dieser Brauch war uralt und stammte aus der Zeit, als die Männer noch bei Wind und Wetter auf See waren.
Da saßen sie dann in einer Reihe - mitten im stärksten Sturm - und sahen auf das graue, tosende Meer hinaus.
Egal, wie hoch das Wasser stand, und wenn es bis an die Deichkrone leckte, sie wichen keinen Zentimeter zurück. "Trutz Blanke Hans" murmelte Oma oft bei Flut. "Das Meer gibt Leben und nimmt Leben. Zug um Zug."

Für Claudia war die See fast wie ein Wesen. Geheimnisvoll und groß - mächtig und herrlich, gefährlich und von stupender Schönheit.
Auf ihren Reisen lernte sie das Meer von seiner südlichen Seite kennen. Sie erinnerte sich an Tierra Verde, als sie auf der Terrasse des Conch Cafe saß und die Sonne untergehen sah. Ein riesiger, kräftig-orangener Glutball, fast ein Drittel des Himmels einnehmend. Immer tiefer sank diese unwahrscheinliche Sonne - und als sie am Horizont das Meer zu berühren schien, ergoss sich das Orange über das Wasser. Tiefblau, violett, türkis und grün - die Wellen hatten auf einmal unendlich viele Farben. Der Anblick rührte sie buchstäblich zu Tränen.

Claudia schwamm gern. Sie liebte es, sich nach einem heißen Tag in die Fluten zu werfen, sich umarmen zu lassen von der See.
Nun gab es da aber eine Schwierigkeit. Claudia war keine Strandschönheit. Sie war groß und sehr imposant. Ihre Hüften hatten Ausmaße, die sie jeden Gedanken an einen Badeanzug verwerfen ließen, geschweige denn, dass sie so etwas wie einen Bikini tragen konnte.
Nun stand Claudia zu ihrer Figur - aber sie hatte definitiv keine Lust auf die abschätzigen Blicke der anderen Strandbesucher. Lächerlich machen wollte sie sich nicht.
Also wartete sie bis zum Abend, wenn der Strand leerer wurde - und ging dann mitsamt Strandkleid ins Wasser. Drunter trug sie nur eine Unterhose.

Eines Tages in Griechenland geschah etwas Unerwartetes.
Claudia hatte den Nachmittag am Strand von Kokoni verbracht, das liegt an der Nordseite des Peloponnes, nicht weit vom Isthmus von Korinth. Die Sonne hatte den ganzen Tag geschienen, hell und heiß. Der Sand war durchgeglüht und Claudia hatte sich der Länge nach auf den Rücken gelegt und wonnevoll seufzend wärmen lassen.
Sie trug ein fast bodenlanges weites Strandkleid, schwarz mit roten Mustern am Ausschnitt und an den Enden der halblangen Ärmel.

Als die anderen Strandbesucher sich nach und nach entfernten - nach Hause, oder in die Restaurants zum Abendessen, bekam Claudia Lust, schwimmen zu gehen. Sie wartete noch eine ganze Weile, bis die Dämmerung hereingebrochen war und der Strand verlassen dalag. Als sich die ersten Sterne zeigten, stand sie auf und ging zum Ufer.
Überraschend still lag die See vor ihr. Kleine Wellen schlürften an den Strand, glitzernd im Licht des Vollmondes, der inzwischen aufgegangen war.
Kein Windhauch zu spüren.

Claudia ließ die Wellen ihre Füße umspülen. Das Wasser war verblüffend warm, immer noch. Vorsichtig ging sie weiter. Nun waren schon ihre Knöchel nass, und der Saum des Strandkleides...
Als die Wellen ihre Oberschenkel erreicht hatten, blieb sie stehen. Der Stoff des Kleides bewegte sich mit dem Wasser, umspielte streichelnd ihre Beine. Claudia genoss die zarten Berührungen. Gleichzeitig spürte sie ihre volle Blase. Sie war ja den ganzen Nachmittag über am Strand gewesen und hatte keine Gelegenheit zum Pinkeln gehabt. Jetzt, im Wasser, wurde der Drang fast übermächtig.

Noch einen Schritt nach vorne, noch einen... Die Wellen erreichten ihren Schritt. Schlagartig wurde ihr Höschen nass. Die plötzliche Berührung ließ sie vor Lust erschauern. Nun gab es kein Halten mehr: sie fühlte, wie es heiß aus ihr herausströmte, wie es warm wurde um sie herum. Was für eine Erlösung! Ihr wurde ganz leicht zumute. Hingebungsvoll strullte sie, bis auch der letzte Tropfen draußen war. Dann warf sie sich in die Wellen und begann, zu schwimmen...

Claudia war eine gute Schwimmerin. Sie war nicht schnell, aber ausdauernd. Kraftvoll glitten ihre Arme durchs Wasser. Sie kam rasch vorwärts. Irgendwann legte sie sich auf den Rücken, um zum Ufer zu sehen. Oha.. SO weit draußen war sie schon. In der Ferne sah sie die Laternen der Uferstraße. Alles gut. Solange das Ufer noch zu sehen war, konnte ja nichts passieren.
Auf dem Rücken liegend betrachtete sie die Sterne und den Mond. Herrlich. Sie lag wie in einer großen Wiege. Das Meer trug sie, fast ohne ihr Zutun.

Sie musste eingedöst sein.
Als sie aus dem Halbschlaf erwachte, erschrak sie. Der Mond war weitergewandert, die Sterne leuchteten nach wie vor hell. Wo war das Ufer? Claudia richtete sich im Wasser auf.
OH NEIN! Sie befand sich auf dem Gipfel einer gigantischen Woge. Vor ihr gähnte ein Wellental, das kein Ende zu haben schien, schwarz und bedrohlich. In der Ferne waren die Straßenlaternen zu sehen - etwas weiter weg als vorhin, aber wenigstens waren sie noch da.

Kalte Angst ergriff sie. Jetzt fielen ihr auch alle Warnungen ihrer griechischen Freundin Eleni wieder ein: "Geh nicht bei Vollmond schwimmen! Das Meer hier ist tückisch. Die Strömungen vom Isthmus ziehen jeden nach draußen. Wenn du zu weit vom Ufer entfernt bist, kommst du nicht mehr zurück. Und bei Vollmond ist das Meer erst ganz ruhig, und dann schaukelt es sich auf. Dagegen schwimmt niemand mehr an..."

Wie hatte sie das vergessen können?
Claudia begann, Richtung Ufer zu schwimmen, durch die riesigen Wellen hindurch. Sie fing an zu kraulen, als sie merkte, dass sie im üblichen Schwimmstil nicht weiter kam. Das Ufer kam nicht näher. Sie verdoppelte ihre Anstrengungen, schwamm bestimmt eine halbe Stunde lang ohne Unterbrechung mit aller Kraft Richtung Festland. Völlig ohne Ergebnis. Das Ufer blieb unerreichbar.

Claudia legte eine Pause ein, um zu überlegen. Ihr Herz schlug ihr bis in den Hals vor Angst. "Ich muss mich überlisten. Ich muss einfach zum Ufer" dachte sie. Dann hatte sie es. Sie stellte sich vor, dass hinter ihr ein weißer Hai auf sie zusteuerte. Ein Mordsvieh, hungrig und tödlich. Sie SAH seine rasiermesserscharfen Zähne vor sich, das hässliche Maul bereits geöffnet, um ihr die Füße abzubeißen... Und dann begann sie zu kraulen.
Und WIE sie kraulte!
Die Panik mobilisierte jedes Quentchen Energie, dass sie in sich hatte. Claudia schwamm buchstäblich um ihr Leben. Den Hai hinter sich, nur Zentimeter von ihren Beinen entfernt, nahm sie Geschwindigkeit auf.

Sie sah kaum noch zum Ufer. Um schneller zu sein, tauchte sie bei jedem Vorwärtszug tief ins Wasser. Ihre Augen brannten vom Salz. Jetzt schaute sie wieder hoch.. AAHH, das Ufer kam näher! Nicht nahe genug! Der Hai würde sie gleich haben! Claudia spürte ihre Arme nicht mehr, die sie mit roboterhafter Präzision durchs Wasser zogen. Schneller!! Noch schneller!! Sie hörte, wie sich die Wellen am Ufer brachen. SCHNELLER!!!

Claudia hörte erst auf, wie besessen zu schwimmen, als sie Steine an ihren Händen schrappen spürte. Sie schlug ihre Finger in das Ufergeröll und kroch den nassen Strand hinauf. Erst als sie einige Meter geschafft hatte, der Sand trocken wurde, legte sie sich erschöpft auf den Bauch, alle Viere von sich gestreckt. Sie hatte es geschafft.

Nach einer ganzen Weile kam sie zu Atem. Mühsam stand sie auf. Ihr Kleid war voller Sand. Mit wackeligen Knien stolperte sie zum Meer zurück und ging im hüfthohen Wasser in die Hocke. Als sie wieder sauber war, machte sie sich auf den Weg hinauf zur Uferstraße. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war, aber die Uferstraße kannte sie ganz gut. Ging sie eben die paar Meter zum Ausgangspunkt zu Fuß zurück.

Als sie endlich oben angekommen war, guckte sie fassunglos auf das Ortschild. Xylokastro???? Das war mindestens 10km von Kokoni entfernt! Claudia war viel zu müde, um den Weg zu Fuß zu schaffen. Sie würde das nächste Gefährt anhalten, das des Weges kam, das war mal sicher. Bis dahin konnte sie ja schon mal in die richtige Richtung wandern. Sie trottete los.

Ihr Kleid troff vor Nässe. Ihre langen blonden Locken auch. Das Meerwasser bildete klene Rinnsale auf ihren Beinen, lief ihr über die Füße und sorgte dafür, dass sie nasse Spuren auf dem Asphalt hinterließ.

Endlich hörte sie hinter sich das untermotorisierte Sirren eines kleinen Lieferwagens. Der MUSSTE sie einfach mitnehmen! Claudia war so fix und fertig, dass sie nur noch in ihr Bett wollte.
Sie stellte sich also mitten auf die Straße und breitete die Arme aus. Sollte er sie doch umfahren, auch egal.

Der hellblaue uralte Wagen legte eine Vollbremsung hin - und blieb ca. 10 Meter vor ihr stehen. Claudia ging zum Führerhäuschen und fragte "Kokoni???". Innen saß ein Bauer, wahrscheinlich auf dem Weg zum Melonenfeld. Ein älterer Mann, vielleicht an die 60 Jahre, unrasiert und offenbar zu Tode erschrocken. Er nickte stumm. Claudia stieg zu ihm ein, und er fuhr wieder los.

Die ganze Zeit über sah er sie furchtsam von der Seite an. Er war ganz nach links gerutscht. Claudia blickte nach vorne durch die Scheibe in den anbrechenden Morgen hinein. Die Sonne ging auf. Was für eine Nacht!

Am Ortsschild von Kokoni hielt der Wagen an. Claudia bedankte sich freundlich. Kaum war sie aus dem Autochen draußen, preschte der Lieferwagen davon.
Sie schlich die 100 Meter zur Pension von Eleni, tappste in ihr Zimmer, zog das Kleid und die Unterhose aus und fiel aufs Bett. Dann wurde es dunkel um sie.

"Claudia!!!"
Elenis Stimme war schneidend und zornig. Claudia blinzelte. Ihre Freundin stand wütend in der Mitte des Zimmers, die Arme in die Hüften gestemmt und blitze sie aus schwarzen Augen an.
"WO warst du????"
"Öhh... ich war.. schwimmen" klang es käglich.
"Schwimmen?!?! Als du um Mitternacht nicht zu Hause warst, hab ich im Kafenion gefragt. Sami hatte noch gesehen, dass du ins Wasser gegangen bist. Zwei Stunden später haben wir mit 10 Leuten den Strand abgesucht. NICHTS! Ich dachte, dich hat es erwischt. Wir alle dachten das. Naja, wenigstens bis heute früh...."
Elenis Gesichtsausdruck veränderte sich. Sie konnte einfach nicht mehr weiter die Zornige spielen.

"Was'n los?" fragte Claudia.
Jetzt musste Eleni doch lachen.
"Na, heute morgen um sieben stand der alte Christos vorm Kafenion und verlangte sofort nach einem Schnaps. Er sitzt seit 4 Stunden da, säuft und erzählt jedem, dass ihm eine Wasserhexe begegnet ist. Bei Xylokastro. Nach der Beschreibung hatte ich allerdings so einen Verdacht...."

Ihr Blick fiel auf die nassen Sachen auf dem Stuhl.
"Claudia, du bist unglaublich! Das wird dir hoffentlich eine Lehre sein. So, jetzt zieh dir mal was Trockenes an, ich finde, du solltest den armen Kerl erlösen. Wir gehen jetzt rüber und klären ihn auf."

Und so geschah es.

;-)))



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